Der geplante Digital Service Act der EU-Kommission greift zu kurz
von Dr. Harald Sondhof, Tübingen
Praktisch die gesamte private, professionelle und staatliche Kommunikation läuft in Europa über Dienste, die sich im Besitz von US-Unternehmen befinden, meist unverschlüsselt. Gleiches gilt für die Speicherung von Daten in der Cloud. Die sozialen Netzwerken erstellen systematisch personenbezogene Nutzerprofile, um sie zu verwerten. 85,8 Prozent der Zeit, die Deutsche insgesamt online verbringen, entfällt auf nur 0,38 Prozent aller digitalen Angebote: Facebook, Google, Amazon, Apple und Co. „Was wir über unsere Gesellschaft, ja über die Welt, in der wir leben, wissen, wissen wir durch die Massenmedien“ schrieb Niklas Luhmann. Auch in Europa bestimmen die US-Firmen mit ihren Algorithmen den gesellschaftlichen Diskurs. Und lassen die Verbreitung von Verschwörungstheorien wie die Bildung von Informationsblasen zu, um die Nutzerbindung zu fördern.
Das EU-US-Privacy-Shield-Abkommen ist im Juli 2020 vom EuGH für ungültig erklärt worden. Zuvor war schon das Safe-Harbor-Abkommen vor Gericht gescheitert. Es ist ein Faktum: Daten europäischer Nutzer werden von US-Firmen in nicht zulässiger Weise verwendet. Es gibt in Europa derzeit jedoch schlicht keine Alternative zu den alltäglich genutzten Internetdiensten der US-Firmen. Das wird sich erst ändern, wenn sich europäische Internetplattformen etabliert haben. Um dieses Ziel zu erreichen, muss Europa im Internet grundsätzlich neu denken.
Europa hat im Internet nicht viel zu bieten, weil die US-Firmen von Marktbedingungen profitieren, die für sie günstig sind. Das Internet belohnt in extremem Maß den, der am schnellsten wachsen kann. Auf dem Gütermarkt verursacht jede zusätzlich produzierte Einheit zusätzliche Kosten. Ein zusätzliches Internetkonto kostet dagegen nichts. Je größer ein Anbieter, desto ausgeprägter sind die Netzwerkeffekte eines natürlichen Monopols. US-Internetfirmen können schneller wachsen, weil ihr Heimatmarkt viel größer als jeder europäische Teilmarkt ist. In den USA leben 328 Mio. Menschen, in Deutschland nur 83 Mio.
Es liegt nicht an fehlendem Unternehmergeist in Deutschland oder Europa. Viele Gründer haben hierzulande unternehmerisch Großes geleistet. Aber außer dem SAP-Team um Hasso Plattner und Dietmar Hopp hat niemand in den letzten fünfzig Jahren eine international erfolgreiche IT-Firma aufbauen können. Ein US-Unternehmen mit einem Jahresumsatz von 20 Mio. Dollar, kommt in Deutschland bei sonst gleichen Voraussetzungen nur auf fünf Mio. Das ist ein erheblicher Nachteil bei der Expansion ins Ausland.
Einen europäischen IT-Binnenmarkt gibt es nicht. Die sprachlichen und regulatorischen Hürden beim Einstieg eines deutschen Unternehmens in den französischen Markt sind deutlich höher als für ein US-Start-up, das von New York aus nach Nebraska expandiert. Wenn das US-Unternehmen dann den deutschen Markt ins Visier nimmt, ist es gegenüber einem einheimischen Start-up so überlegen wie ein ausgewachsener Kampfhund gegenüber einem Labradorwelpen. Theoretisch könnte der einfache Zugang zu Wachstumskapital den Nachteil geringerer Größe kompensieren. Aber auch bei der Wachstumsfinanzierung liegen die USA uneinholbar weit vorne. In den USA gibt es etwa 600 Milliardäre, darunter viele neue, in Deutschland sind es nur rund 100 – und von diesen haben die meisten ihr Geld geerbt. In den USA standen daher letztes Jahr rund 50 Mrd. Euro für junge Unternehmen zur Verfügung, in Deutschland nicht einmal zwei Mrd. Euro.
Es ist nicht unmöglich, in Deutschland an eine Finanzierung zu kommen, es ist nur selten. Zalando und Delivery Hero fanden Kapitalgeber, die deutsche Internetfirmen mit dreistelligen Millionen-Euro-Beträgen zu – im Vergleich mit US-Firmen kleinen – europäischen Champions gemacht haben. Dabei konzentrieren sich größere Investments in Europa fast ausschließlich auf Shopping, Entertainment und Convenience, wo sich US-Erfolgskonzepte einfach kopieren lassen. In Bereichen, in denen es um private und gesellschaftliche Sicherheitsinteressen geht, und wo neue Geschäftsmodelle gefordert sind, die die Privatsphäre ernst nehmen, gibt es bislang keine nennenswerten Investments. Das ist bei den schlechten Chancen für europäische Internetprojekte nicht überraschend.
Das muss und kann sich ändern. Russland und China kommen ohne US-Plattformen aus. Im Falle Russlands hat die Größe des Heimatmarktes keine Rolle für erfolgreiche Start-ups gespielt, eher die unmittelbare Beteiligung der staatlicher Einrichtungen. In China, dem weltweit größten Binnenmarkt, sind die anfänglich mit Erfolg tätigen US-Firmen von einheimischen Unternehmen verdrängt worden. In beiden Ländern existieren lebendige Ökosysteme mit eigenen Suchmaschinen, sozialen Netzwerken, Kommunikationsdiensten und einer Vielzahl weiterer digitaler Angebote. Man kann sogar sagen, dass das Internet in Russland und China innovativer genutzt wird als in den USA und in Europa. Ein Internetdienst wie das chinesische WeChat bietet dem Nutzer mehr als Facebook, WhatsApp, Google und PayPal zusammengenommen. Die russische Sberbank, vergleichbar mit der Sparkassenorganisation, betreibt eine vielseitige Internetplattform, die für viele Russen im Alltag unverzichtbar geworden ist.
Natürlich sind in Russland und China ausländische Firmen (auch deutsche wie Xing) durch massive staatliche Interventionen behindert worden. Die Absicherung autoritärer Regimes, die hinter der Bevorzugung einheimischer Firmen steht, ist kein Vorbild für Europa. Aber Europa kann von Russland und China lernen, dass sich Interessen im Internet mit eigenen Internetunternehmen durchsetzen lassen. Diese Lehre sollte Europa beim Blick auf seine Internetunternehmen nicht vergessen. Der von der EU-Kommission geplante Digital Services Act (das Gesetz für digitale Dienste) kann nur ein erster Schritt sein. Nach dem, was bisher bekannt ist, will sich die EU-Kommission darauf beschränken, von den US-Internetfirmen die eigentlich selbstverständliche Einhaltung europäischer Gesetze zu verlangen. Außerdem sollen die als „Gatekeeper“ bezeichneten Plattformen, die alle aus den USA kommen, verpflichtet werden, eigene Produkte nicht zu bevorzugen und strengere Transparenzvorschriften einzuhalten. Das ist naiv und wird wenig dazu beitragen, den Aufbau europäischer Internet-Plattformprojekte zu voranzutreiben.
Die notwendigen großen Investments für den Aufbau europäischer Internetplattformen wird es nur geben, wenn sich die Rahmenbedingungen fundamental ändern. Der Labradorwelpe wird nur dann zu einem starken Hund heranwachsen, wenn man ihn vor den Kampfhunden schützt. Der Schutz lässt sich rechtlich begründen: Die Kampfhunde halten sich nämlich nicht an die europäischen Gesetze. Auch wenn sie es wollten, können sie das nicht versprechen. Im Zweifel gehen die nationalen Sicherheitsinteressen ihres Herkunftslandes, welche immer das sind, vor. Das ist nicht erst seit Trumps „America first“-Politik so. Im Übrigen gilt das auch für russisch und chinesisch kontrollierte Firmen.
Nichts spricht gegen die Beteiligung von US-Investoren an europäischen Internetfirmen, die an die Stelle der aktuell dominierenden US-Plattformen treten müssen. Aber hier muss es eine Begrenzung geben, wenn es um die Kontrolle der Firmen geht und darum, unter welcher Jurisdiktion die Hauptgesellschafter fallen. Diese Sichtweise mag derzeit verwegen scheinen. Aber schon seit dem Einstieg des persischen Schahs bei Krupp im Jahr 1974 wird die Frage diskutiert, ob alle Arten von ausländischen Investitionen im gesellschaftlichen Interesse sind. Das Internet, der größte Datenmarkt der Menschheitsgeschichte, hat heute für den Schutz der liberal-demokratischen Gesellschaften in Europa mehr Bedeutung als die konventionelle Waffenproduktion. Es liegt nahe, das vorhandene Instrumentarium des Außenwirtschaftsgesetzes zur Kontrolle ausländischer Investitionen gerade im Internet anzuwenden. Sonst übernehmen kapitalstarke US-Firmen weiter vielversprechende europäische Start-ups, bevor sie eine ernsthafte Konkurrenz darstellen.
Der Aufbau europäischer Internetplattformen wird dauern. Ähnliches gilt aber auch für das Ziel, eine CO2-freie Wirtschaft aufzubauen oder die E-Mobilität durchzusetzen. Die dominierenden US-Internetfirmen werden realistisch betrachtet erst in zehn oder fünfzehn Jahren durch bessere europäische Plattformen abgelöst werden können. Aber es ist wichtig, dass sich Europa im Internet das Ziel setzt, unabhängig zu werden. Nur so lässt sich die Souveränität in der digitalen Welt der Zukunft bewahren. Für Deutschland würde es sich besonders lohnen, ein solches Ziel energisch zu verfolgen. Immerhin ist es wahrscheinlich, dass einige europäische Champions aus Deutschland kommen werden – wegen der relativen Größe des deutschen Internetmarktes innerhalb der europäischen Union.